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Wanderreportagen

Hintergrund: Über Grenzen

Sie sind erfunden und doch real: Grenzen. Doch warum braucht es sie überhaupt? Was ist, wenn Grenzen klimabedingt wandern? Und gibt es irgendwo keine Grenzen? Eine gedankliche Annäherung an die meist unsichtbaren Linien.
06.09.2024 • Text: Martin Weiss
Der Doubs beim Lac des Brenets im Neuenburger Jura. Die Grenze verläuft mitten durch den See.

Grenzen gehören zu den merkwürdigsten Erfindungen der Menschheit: Zum einen sind sie da, erkennbar etwa an den Grenzsteinen, denen wir auf Wanderungen oder an Zollstationen begegnen. Doch wirklich vorhanden sind sie nicht. Es sind imaginäre Konstrukte, mit denen wir künstlich geschaffene Hoheitsgebiete ab- und eingrenzen. Typisch Homo sapiens. Den Tigerforellen im Doubs dagegen ist es egal, ob sie im schweizerischen oder im französischen Hoheitsgebiet schwimmen. Auch dass die Grenze im Kanton Jura unserer Uferseite entlangführt und nicht wie im neuenburgischen Abschnitt in der Mitte des Flusses, stört sie nicht. 1780 hat dies der Basler Fürstbischof Friedrich von Wangen mit dem französischen König Louis XVI. so vereinbart, warum ist nicht mehr eruierbar. Klar ist, dass die Grenzen in Gewässern üblicherweise in der Mitte verlaufen – so wie im Flüsschen Versoix im Kanton Waadt. Oder im Lago Maggiore im Tessin. Mit einer Ausnahme: dem 473 Quadratkilometer grossen Bodensee. Er ist der einzige Ort in ganz Europa, wo die Anrainerstaaten darauf verzichtet haben, Grenzlinien zu ziehen. Abgesehen von ein paar historischen Seeschlachten und einer Busse für zwei Sportfischer, die während der Pandemie in ihrem Boot den geforderten Abstand nicht eingehalten haben, gehört der Bodensee wohl zu den friedlichsten Grenzregionen auf unserem Planeten.

Grenzen auf Wanderschaft

Viele politische Grenzen sind über die Jahre fragiler geworden. Das gilt sogar für die schweizerischen, wie Alain Wicht vom Bundesamt für Landestopografie Swisstopo weiss. Er ist für die Kontrolle und den Unterhalt der insgesamt 6638 Grenzmarkierungen zuständig. Vom Mont Dolent im Unterwallis bis nach Chiasso hat er in den letzten zwei Jahren alle kontrolliert und festgestellt: Klimabedingt haben sich die Verläufe an mehreren Stellen verschoben. Meist zugunsten der Schweiz. Paradebeispiel ist die Wasserscheide Testa Grigia beim Theodulgletscher oberhalb von Zermatt. Bis vor wenigen Jahren war der Fall klar: Wer oben im Bergrestaurant Rifugio Guide del Cervino eine Polenta bestellte, tat dies auf italienischem Boden. Seit Jahrhunderten markiert die Wasserscheide des Gletschers die Grenze. Durch den Rückgang der Eismasse hat sich diese jedoch verschoben, sodass die italienische Schutzhütte immer mehr auf schweizerisches Gebiet «rutschte». «Um den Gebietsgewinn zu kompensieren, haben wir uns auf einen Landabtausch geeinigt», erklärt Alain Wicht. Der müsse in Rom jedoch noch vom Senat und bei uns vom Bundesrat verabschiedet werden.

Auch an anderen Stellen stösst Wicht auf wandernde Grenzen, so zum Beispiel bei der Grenzmarkierung auf dem Jazzihorn (Pizzo Cingino Nord). «Dort wurde der trigonometrische Messingbolzen von einem Blitz getroffen. Er ist wie ein Champagnerkorken aus dem Loch geschossen und auf die italienische Seite geflogen.» Es komme auch vor, dass sich Grenzbäche neue Wege suchten. «Das war beim Flüsschen Foron im Kanton Genf der Fall. Das konnten wir ebenfalls mit einem Landabtausch lösen», sagt der gebürtige Bieler, der dafür sorgen muss, dass die Schweiz weder grösser noch kleiner wird.

Die Kantone Mailand und Veltlin 

Nicht immer lief die Grenzziehung so friedlich ab. Anlässlich der ennetbirgischen Feldzüge annektierten unsere Vorfahren vor 500 Jahren nicht nur das Veltlin, sondern wollten auch das von ihnen eroberte Mailand in die Eidgenossenschaft einbinden. Doch dann kam die Schlacht von Marignano, und die lombardische Metropole ging wieder zurück an die Franzosen. Nicht so das Veltlin. Das musste die Schweiz erst wieder 1815, als es am Wiener Kongress zur grossen europäischen Grenzbereinigung kam, abtreten. Beinahe wäre es trotzdem zu einem neuen Kanton gekommen: Die Aostataler wollten unbedingt Teil der Schweiz werden. Doch die winkte ab, weil sie befürchtete, damit eines der grössten Armenhäuser Europas am Hals zu haben. Schade, fanden noch 2010 fast 70 Prozent der Aostataler, wie eine Umfrage der Turiner Zeitung «La Stampa» ergab.

Aber auch so hat die Schweiz genug Herausforderungen zu bieten, falls jemand die gesamte Grenze abwandern möchte. Gewagt hat das bis dato wohl noch niemand. Kein Wunder: Die Strecke ist 1935 Kilometer lang und wird durch etliche Grenzpunkte markiert, die nicht ohne sind. Dazu gehört derjenige auf der Dufourspitze (4634 m), dem höchsten der Schweiz. Der niedrigste liegt am Langensee an der Mündung der Valmara südlich von Brissago, der südlichste ist der Moreggi-Grenzstein Nr. 75B bei Pedrinate, unweit von Chiasso. Hier gibt es noch einen vor sich hin rostenden Eisenzaun, der jedoch an etlichen Stellen durchlässig ist, sodass man problemlos in das italienische Naturreservat mit den lauschigen Tümpeln gelangen kann.

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Ein rostiger Eisenzaun zwischen Italien und dem Tessin markiert die südlichste Grenze der Schweiz. Bild: Valérie Chételat

Die vier Eckpunkte der Schweiz

Zu diesem und den drei anderen Eckpunkten der Schweiz bietet die Bieler Wanderleiterin Valérie Chételat begleitete Wanderungen an. Dazu gehören der Grenzstein Nr. 1, datiert 1816 in der Nähe von Chancy GE, auf dem auf der Südseite das Wappen des Königreichs Sardinien zu sehen ist. Dieses Königreich existierte vom Hochmittelalter bis 1861 und umfasste unter anderem Teile von Savoyen, zu dem Genf gehörte. Die nördlichste Ecke markiert der Grenzstein Nr. 593 bei Bargen im Kanton Schaffhausen – er wird auch Schwarzer Staa genannt, weil hier früher offenbar Verbannte nach Deutschland abgeschoben worden sind. Der östlichste, Nr. 29, liegt auf dem 2762 Meter hohen Piz Chavalatsch im Val Müstair GR und ist durch einen Bergwanderweg erschlossen. Um all dieses Eckpunkte ranken sich Geschichten, die Valérie Chételat eloquent zu erzählen weiss.

Begrenzt und grenzenlos

Es stellt sich die Frage: Gibt es irgendwo keine Grenzen? Im Universum, sagt Ben Moore, Professor für Astrophysik an der Universität Zürich. «Seit dem Urknall, bei dem Licht, Raum, Materie und mit ihnen die physische Welt erst entstanden ist, dehnt sich das Universum aus und ist damit grenzenlos.» Und was war davor? Da war das Nichts, ist der Autor des Buchs «Elefanten im All» überzeugt. Und das sprenge wiederum Grenzen, nämlich diejenigen unserer Vorstellungskraft.

Aber es gibt tatsächlich etwas, das keine Grenzen hat. Es ist die Kreiszahl Pi, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser angibt. Eine Zahl mit einer unbegrenzten Menge von Stellen nach dem Komma. Wie viele es sind? Das ist ein Wettstreit, der seit Jahrzehnten läuft. Zwischenzeitlich ist der Rekord bei 100 Billionen Stellen nach dem Komma angelangt. Zugegeben, das sind intellektuelle Spielereien. Aber sie zeigen, wie begrenzt und gleichzeitig grenzenlos unsere kognitiven Fähigkeiten sind.

Martin Weiss

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