Mood image
Wanderreportagen

Bunte Oase im weissen Wunderland

Die Alp Flix hat schon so manche in ihren Bann gezogen. Im Winter, abgeschnitten von der Welt, versprüht sie vielleicht ihren grössten Zauber. Zu Besuch bei der Flixerin Victoria Spinas und ihrer Tierwelt.
29.11.2024 • Text und Bilder: Iris Kürschner
Schneeschuhrunde von Sur über die Alp Flix
Sur, baselgia • GR

Schneeschuhrunde von Sur über die Alp Flix

Artenvielfalt und Abgeschiedenheit charakterisieren die Alp Flix. Auf dieser Schneeschuhwanderung wird man verzaubert vom Tierreichtum, von der Stille und von der Schönheit der Landschaft. Hier kann man die Gipfel rundherum auf sich wirken lassen, dem Ruf eines Tannenhähers lauschen, den Spuren der Walser folgen, beim allein stehenden Kirchlein Son Roc die Seele baumeln lassen, vielleicht einen Steinadler beobachten, der über der Hochebene elegant seine Runden dreht und die eigenen Gedanken davonträgt. Startpunkt der markierten Schneeschuhwanderung ist das kleine Dorf Sur an der Julierpassstrasse. Von der Bushaltestelle bei der Kirche sieht man schon die Übersichtstafel der Wanderlandroute Nr. 573. Dort stapft man mit seinen Schneeschuhen, den rosa Signalisationsstangen folgend, entlang des Baches bergwärts. Diese Wegführung kürzt eine Kehre der Alp-Flix-Strasse ab, die im Winter nur zur Fuss, von Schneemobilen oder Schlittenfahrenden genutzt werden darf. Nach der nächsten grossen Linkskehre der Strasse biegt man bei P. 1721 rechts ab, stapft auf einem Forstweg in den Wald und nimmt nach einem Brücklein die linke Route hangaufwärts über Plang Grond zur Alp Flix. Sobald die Bäume kleiner werden, flacht es ab, und die Hochebene liegt wenig später in ihrer ganzen Pracht vor einem. Die Signalisation leitet am Kirchlein Son Roc vorbei zum Berghaus Piz Platta bei Tigias, wo es sich lohnt, eine Nacht zu verbringen. Von Tigias geht es nördlich durch die Siedlung Tga d’Meir, dann nordwestlich nach Cuorts, wo der Abstieg Richtung Sur beginnt. Die Route folgt dem Bergbach Ava dallas Cuorts steil abwärts. Über eine Brücke bei P. 1777 wechselt man die Bachseite und stösst wenig später auf die Alp-Flix-Strasse. Einige Kehren abkürzend geht es zurück zum Ausgangspunkt Sur.

zum Wandervorschlag

Ein Winter, in dem es nicht aufhören will zu schneien. Die 54-jährige Victoria Spinas werkt am Rand einer weiten Hochebene. Jeden Morgen muss sie sich wie ein Maulwurf einen Weg durch den Schnee graben – und das schon seit Tagen. Mit Schneefräse und händisch. Trotz der Kälte kommt sie dabei ordentlich ins Schwitzen, denn gut einen Kilometer trennt den Stall vom Wohnhaus. Kaum ist der Weg freigeschaufelt, kann sie kurze Zeit später von vorne anfangen. Als gäbe es nichts anderes zu tun, doch es gilt täglich über 80 Tiere zu versorgen. Um das zu schaffen, steht sie jeden Morgen um 6 Uhr auf, bei Schneefall noch früher. Geduldig warten ihre zehn Mutterkühe und empfangen sie mit einem Begrüssungsmuhen, das über die Hochebene hallt.

Die Sonne schmückt die umliegenden Berggipfel nun mit gleissenden Lichthauben. Der erste Tag, an dem es endlich einmal nicht schneit. Der dicke Schneemantel wirkt herrlich unschuldig, verzaubert die Landschaft, gibt den Bergen weiche Formen. In angemessenem Abstand umrahmen sie die Hochebene, sodass keine Enge aufkommt, sondern eine wohltuende Weite das Herz öffnet, freier atmen lässt. Die Alp Flix hat schon so manchen verzaubert. Victoria Spinas kann sich keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen, auch wenn es mitunter an die Kraftreserven geht. Es ist ihr Lebensmittelpunkt. Hier ist sie aufgewachsen und nach einigen Wanderjahren auch wieder zurückgekehrt – ins malerische Surses im Südwesten Graubündens. Hoch über dem Dörfchen Sur erstreckt sich auf etwa fünf Quadratkilometern die Hochebene der Alp Flix.

Powerpress-210536

Son Roc, die Kapelle der Alp Flix, wurde von den Walsern erbaut.

Son Roc hat alles im Blick

Im Winter führt keine öffentliche Strasse zur Alp Flix, und Besuchende müssen von Sur zu Fuss hinauf, mit Schneeschuhen oder Tourenski. Die Route schlängelt sich durch einen Fichtenwald mit Weiden. Wie ein Zauberwald wirkt er in tief verschneitem Zustand. Eiskristalle glitzern, wenn der eine oder andere Ast sich von seiner Schneelast befreit. Wer leise unterwegs ist, mag nicht selten einem Rudel Hirschen oder Gämsen begegnen. Als es abflacht, ist es, als würde sich ein Vorhang öffnen: Bühne frei für die Alp Flix. Vielleicht empfängt einen ein exotischer Schrei, nämlich dann, wenn sich Lui mal wieder in der Balzzeit geirrt hat. Der stolze Pfau von Victoria macht sich gerne bemerkbar. Auf einem kleinen Hügel steht verträumt ein Kirchlein einsam auf weiter Flur. Son Roc, der Heilige Rochus, hat alles im Blick, jede Siedlung der Alp Flix: Cuorts, Tgalucas, Tga d’Meir und Salategnas. Zwischen den beiden letzteren steht das Berghaus Piz Platta, auf der Landkarte mit dem Flurnamen Tigias bezeichnet.

Powerpress-210738

Auf der Alp Flix schlägt Pfau Lui auch im Winter gerne mal sein Rad.

Victorias Wohnhaus und ein Teil ihrer Ställe befinden sich in Tga d’Meir, der andere Teil ihrer Ställe in Salategnas. Sie träumt von einem neuen, grösseren Stall, in dem sich alle Tiere unter einem Dach unterbringen liessen, direkt neben ihrem Haus – das wäre eine immense Arbeitserleichterung. Momentan sucht sie Sponsoren.

Schatzinsel Alp Flix

Während es auf der Alp Flix im Winter ruhig zu- und hergeht, ist sie im Sommer sehr populär, seit sie im Juni 2000 durch den Tag der Artenvielfalt des Magazins «GEO» in die Öffentlichkeit katapultiert wurde. Im Rahmen des Projekts «Schatzinsel Alp Flix» hatten über 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an nur einem Tag 2092 Tier- und Pflanzenarten auf der Hochebene entdeckt, darunter vier noch gänzlich unbekannte Arten: eine Dungmücke, einen Blattfloh, eine Spinne und eine Nacktschnecke. Seither wird jeden Sommer fleissig weiter geforscht. Victoria, die nicht nur Landwirtin, sondern auch Wanderleiterin ist, betreut die wissensdurstigen Experimentierenden. Was viele überrascht habe, sei, dass man diese enorme Vielfalt in einer solchen Höhenlage nicht erwartet hätte – die Alp Flix liegt auf rund 2000 Metern ü.M. Die Ansicht der Wissenschaft, dass sich mit der Höhenlage auch die Vielfalt reduziere, war somit widerlegt. Bisher konnten die Forschenden rund 3500 Arten erfassen und das auf einer Fläche von gerade einmal fünf Quadratkilometern. Ein Grund für diese Artenvielfalt ist der Reichtum an gegensätzlichen Lebensräumen, die sich wie ein Mosaik zusammenfügen: Hoch- und Flachmoore neben trockener Heide, Seen und Lacken neben Fett-, Mager- und Riedwiesen, Wälder neben Buschland, genutzte und ungenutzte Gebiete. Hinzu kommt die Varietät des geologischen Untergrunds. Jetzt im Winter schlummert das alles unter einem dicken Schneemantel.

  • 1

    Hinter der Kapelle liegen die Siedlungen Tga d’Meir und Tigias mit dem Berghaus Piz Platta.

  • 1

    Alp Flix, Kapelle Son Roc

    Walser und Wanderwirtschaft

    Mittlerweile sind Miststock und Auslaufbereich freigeschaufelt, und Victoria kann sich ans Säubern der Viehställe machen. Ihr Nachbar Rolf kommt aus dem angrenzenden Haus heraus und bringt das Frühstück. Das tut der Ostschweizer immer, wenn er da ist. Victoria freut sich, wärmt ihre Finger am heissen Kaffee, nimmt ein paar Schlucke sowie ein paar Bisse vom Butterbrot und werkt weiter.

    Seit vielen Jahren hat Rolf als Winterpächter das Hirtenhaus neben dem Stall bezogen und verbringt viel Zeit hier. Er schwärmt von den Tourenmöglichkeiten, von der Stille und Idylle, gerade im Winter, wenn nicht mehr so viele Leute hinaufkämen.

    Früher kamen Tiroler und Norditaliener als Hirten für die Sommersaison hierhin, erwähnt Victoria und erzählt auch von den Walsern, die sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts auf der Alp Flix angesiedelt hatten. Einige deutsche Flur- und Familiennamen zeugen noch davon. In der Blütezeit sollen um die 200 Walser auf der Alp Flix gelebt haben. Doch Ende des 17. Jahrhunderts gaben sie die Dauersiedlung auf, weil sich das Klima markant verändert hatte. Die Kleine Eiszeit liess die Gletscher wieder wachsen. So zog man hinunter nach Sur, tat sich mit den Rätoromanen zusammen und ein Wanderleben begann. Ein Hin und Her zwischen Berg und Tal. Je nachdem, wo geheut werden musste, zogen die Familien mit Sack und Pack um, mal waren sie unten in Sur, mal oben auf der Alp. Heute leben wieder zehn Personen ganzjährig auf der Alp Flix – Victoria ist eine davon.

    1

    Bauernhof von Victoria Spinas, Alp Flix , Siedlung Salategnas

    Zurück zu den Wurzeln

    Als junger Mensch erkundete Victoria die Welt, und arbeitete in Brasilien auf einer Farm. «Mein Höhepunkt», sagt sie lachend: «5000 Kühe, 200 Pferde, sieben Gauchos und ich». Doch dann kehrte sie in ihre Heimat zurück, um ihren Kindern Wurzeln zu geben, liess sich 1998 ganzjährig auf der Alp Flix nieder und baute neben dem Hof ihrer Schwester ihren eigenen auf mit Hühnern, Kaninchen, Enten, Gänsen, Mutterkühen, Pferden und Pfauen. Gerne rettet sie Tiere aus einer kläglichen Existenz, so wie Gänserich Franz, der seit zwölf Jahren den Hof beschützt. «Und Lui, der Pfau, für mehr Farbe in meinem Leben», sagt Victoria und schmunzelt. Dazu gehört die Pfauenhenne Pie, der Lui jetzt im tiefsten Winter sein schillerndes Rad schlägt und dabei mit Federn und Hinterteil aufmunternd rasselt.

    «Im Winter sind wir hier völlig auf uns gestellt. Das ist wie Tag und Nacht im Vergleich zum Sommer.»

    Victoria Spinas, Bäuerin

    Kurz vor Mittag düst Victoria mit ihrem Schneemobil zu ihrem zweiten Stall, um sich dem anderen Teil ihrer Tiere zu widmen. «Im Winter sind wir hier völlig auf uns gestellt. Das ist wie Tag und Nacht im Vergleich zum Sommer. Vom ersten Schneefall bis in den Mai schliesst die Strasse.» Ihre zwei Kinder schlittelten im Grundschulalter in aller Frühe nach Sur hinunter, und Victoria holte sie dann nachmittags mit dem Motorschlitten von der Schule ab. Mittlerweile sind sie erwachsen, und Tochter Francesca hat auch Freude an der Landwirtschaft, was Victoria sehr glücklich macht. Die Landschaftspflege sei so wichtig auch für die Artenvielfalt. Leider würden die Menschen durch die Verstädterung nach und nach den Zugang zur Natur verlieren, sagt Victoria. Das mache das Leben hier oben schwieriger, weil sie sich nicht angemessen verhielten.

    Gegen 20 Uhr ist Feierabend. «Ich beobachte gerne Wildtiere, wünsche Fuchs und Hase gute Nacht und begrüsse im Frühling die Zugvögel.» Mit einem Fuchs habe sie Freundschaft geschlossen. Im Sommer sei er unterwegs, doch ab dem Herbst komme er regelmässig vorbei, sässe ganz nah bei ihr und während sie sich mit ihm unterhalte, wirke seine Mimik, als würde auch er sich mit ihr unterhalten.

    Buchcover

    Tipp

    Werner vom Berg hielt seine Zeit als Wirt im Berghaus Platta von 2010 bis 2020 fotografisch und kulinarisch in einem wunderbaren Buch fest. Neben ausgewählten Rezepten kommen ausserdem Einheimische und Stammgäste zu Wort, die sehr poetisch und einfühlsam ihre Faszination beschreiben. «Sehnsucht Alp Flix», Fona Verlag, ist erhältlich im Berghaus Piz Platta.

    Iris Kürschner

    Mehr Infos

    Tags

    Südostschweiz Magazin DAS WANDERN Tageswanderung

    Mit Klick auf ein Tag können Sie dieses in Ihrem Account hinzufügen und erhalten auf Ihre Interessen zugeschnittenen Content vorgeschlagen. Tags können nur in einem Account gespeichert werden.

    Artikel wurde dem Warenkorb hinzugefügt.