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Kolumne ABO

Wandern ist unheimlich

29.11.2024

Letzthin durchlebte ich beim Wandern eine kleine Katharsis, also eine emotionale Reinigung durch ein Erlebnis. Es begann mit dem Unbehagen auf dem Sessellift. Ich fuhr auf dem quietschenden Metallsitz direkt in einen dichten Nebel und verlor mein Gefühl für die Distanz zur Weide unter mir. Allgemein fühlte mich etwas ungut, kurz vorher hatte ich ein Mittel gegen Unterleibsschmerzen eingeworfen und das wirkte erst halb. Die Kuhglocken wurden schriller, gleichzeitig blieben die Tiere unsichtbar. Geister? Das Wort «unheimlich» beschreibt das unbehagliche Gegenteil von Heim oder Heimat; etwas Vertrautes, das fremd wird. Ich schwebte mit dem Lift durch die ausgelöschte Landschaft über unsichtbare Kühe und mir dämmerte: Schwellenzustände werden oft als Kulissen für Horrorfilme eingesetzt. Ein verlassenes Hotel. Ein leeres Wartezimmer. Ein einsamer Sessellift ...

Oben am Berg war ich zu einer Nachtwanderung verabredet. Wir zogen in den frühen Abend hinein, und der Nebel löste sich allmählich auf. Nach einem irren Sonnenuntergangsintermezzo, in dem der Himmel für ein paar Minuten scheinbar brannte, verblassten die Farben und die Wurzeln auf dem Weg traten als helle Adern aus der Erde. Die ersten von uns knipsten ihre Stirnlampen an, ich liess mich absichtlich etwas von der Gruppe zurückfallen; einerseits, um eine weitere Schmerztablette zu nehmen, und andererseits, um mich dem metaphysischen Gruseln hinzugeben. In dem Zusammenhang musste ich an Julia Kristevas Theorie der Abjektion denken, in der sie alles als abjekt beschreibt, was unser Körper abstossen muss, um gleichzeitig eine Art von Stabilität zu wahren. Dazu gehören auch Ausscheidungen wie Blut oder Schweiss; das, was uns ekelt und häufig gleichzeitig fasziniert. In Horrorfilmen wird mit dieser Faszination gerne gespielt: Da können wir diese Grenze überschreiten, ohne dass uns etwas passiert. Genau das machte ich auch, als ich im Dunkeln durch sumpfige Wiesen stapfte. Ob ihrs glaubt oder nicht – es war total kathartisch.

Über die Autorin

Ava Slappnig hat Germanistik, Gender Studies und Kulturpublizistik studiert. Sie arbeitet als Aufsicht im Kunstmuseum Bern und als Journalistin im Kulturbereich. Neben den offiziellen Wanderwegen erkundet sie auch mal Diskurse, Ideen und gesellschaftliche Phänomene.

Zu jeder Kolumne gestaltet die junge visuelle Gestalterin Leonie Jucker aus Bern eine llustration.

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