«Und von jedem der bestiegenen Gipfel aus konnten wir Thun sehen!»

Meine Sektion Blüemlisalp des Schweizer Alpen-Clubs SAC hat letztes Jahr ihr 150 Jahr-Jubiläum gefeiert. Die Jugendgruppen haben sich etwas Besonderes einfallen lassen und unter dem Projekt «Thun 150°» in einem Jahr das von Thun aus sichtbare Panorama bestiegen. Es reicht vom Schreckhorn bis zum Gantrisch und umfasst 52 Gipfel. Grundlage für die Auswahl der Tourenziele war das Rundbild Thun-Panorama, das der Künstler Marquard Wocher Anfang des 19. Jahrhunderts gemalt hat. Passend zum Jubiläum wählte die Projektgruppe einen Ausschnitt von 150 Grad. Das Abenteuer vor der Haustüre war ein voller Erfolg: 47 Gipfel wurden bestiegen. Das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau sowie das Blüemlisalpmassiv waren die alpinistischen Höhepunkte. Besonders spannend sei aber die Vielfalt der Besteigungen gewesen, heisst es im Abschlussbericht, denn mit Ski-, Hoch- und Klettertouren bis hin zu Alpinwanderungen im grasigen Voralpengelände habe man das ganze Bergsportrepertoire bespielt. Vor allem aber: «Und von jedem der bestiegenen Gipfel aus konnten wir Thun sehen!»

Was nehme ich aus diesem Bericht mit?
Oft sind zündende Ideen und Inspirationen für besondere Erlebnisse buchstäblich naheliegend. Manchmal ist es nicht das völlig Unbekannte oder besonders Spektakuläre, das den Reiz einer Wanderung ausmacht, sondern die Nähe zum eigenen Wohnort, von dem aus man Gipfel(ziele) sehen kann.
Ein Projekt wie «Thun 150°» wird manchem mangels alpinistischer Kenntnisse verwehrt bleiben. Dennoch kann es als Grundlage für zukünftige Bergtouren dienen, schliesslich kann man auf offiziellen Berg- und Alpinwanderwegen eine stattliche Anzahl von Berggipfeln erklimmen.
Immerhin kann ich mich rühmen, alle von Thun aus sichtbaren Gipfel benennen zu können. Aber in Zeiten von Apps wie Peakfinder ist das auch kein Bluff mehr. Und immerhin habe ich doch schon praktisch alle Berge des Thuner Panoramas bestiegen, die für mich als Alpinwanderin machbar sind. Übrigens hat die Thuner SAC-Jugend alle An- und Rückreisen mit ÖV oder Velo bewältigt, aber das ist nur eine Randnotiz.

Zum Thuner Aussichtsberg
Dass es da oben irgendwo einen See geben muss, ahnt man bereits im Warteraum der Stockhornbahn. Am Wochenende drängen neben Wanderern, Kletterern und Gipfelausflüglern auch Fischer mit Klappstühlen und Angelausrüstung in die Kabine. Die meisten von ihnen verbringen den Tag am malerischen Hinderstockesee, den man in wenigen Minuten von der Mittelstation Chrindi aus erreicht. Wer zuschauen will, wie die Regenbogenforellen im Minutentakt aus dem Wasser gezogen werden, folgt ihnen und startet die Wanderung mit einem lohnenden Umweg um den See. Die direkte Route folgt zuerst dem Grat und traversiert dann über dem See die steile Fluh. Nach dem ersten Aufstieg öffnet sich auf der Alp Vorderstocke der Blick ins Simmental und auf die Niesenkette. Kurze Zeit später, auf einem kleinen Pass, erblickt man den Oberstockesee. Im Gegensatz zum belebten Hinderstockesee liegt er idyllisch und ruhig da. Hier oder etwas weiter oben auf der Terrasse des Berggasthauses Oberstockenalp ist ein guter Ort für eine Pause und eine Stärkung für den letzten Aufstieg zum Stockhorn. Ein Höhepunkte sind die Aussicht und der Tiefblick nach Norden. Dazu steigt man vom Restaurant auf dem Alpenblumen-Lehrpfad zum Gipfel und geniesst von dort die wunderbare Rundsicht. Oder man geht bequem durch den Tunnel und tritt - Schwindelfreiheit vorausgesetzt - auf die Panorama-Aussichtsplattform, die in der senkrechten Nordwand hängt. Die Aussicht auf die Stadt Thun und das Mittelland zum Jura hin ist fantastisch. In der Mittelstation Chrindi steigen wieder Fischer zu, die meisten mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht und den erlaubten sechs Forellen im Gepäck.

Längste Treppe der Welt
Einmal im Jahr, an einem Junitag, gibt es am Niesen kein Halten mehr: Dutzende Menschen rennen die schmale Treppe entlang des Bahntrassees hinauf. Die längste Treppe der Welt übt ihren Reiz aus: 11 674 Treppenstufen in etwas mehr als einer Stunde zu meistern, das muss erst geschafft werden. Der Kolumbianer Francisco Sanchez brauchte dafür nur 52:22 Minuten und stellte die Bestzeit auf der Rekordtreppe auf. Die Wanderer nehmen es gemütlicher. Sie wählen dazu den rund fünfstündigen Weg, der zwar steil, aber aussichtsreich mehr oder weniger der Bahn entlang führt. Er beginnt in Mülenen rechts der Talstation mit der Überquerung der Kander. Erst geht es gemächlich aufwärts, dann immer steiler – immer begleitet vom Knattern und Schleifen der Seilbahn. Mehrmals können die Gipfelstürmer wählen zwischen einer längeren, aber weniger steilen Route und dem Direktweg. Bis etwas nach der Mittelstation Schwandegg verläuft der Weg mehrheitlich durch den Wald, später folgt die Waldgrenze und mit ihr das unbegrenzte Panorama, wo das Tiefblau von Thuner- und Brienzersee mit dem Weiss der Gipfel des Berner Oberlandes um die Wette strahlt. Diese Aussicht kann bei der Mittelstation beim Bräteln genossen werden. Danach werden die Haarnadelkurven immer enger und zahlreicher, doch der Gipfel rückt näher und näher. Gut möglich, dass einen hier ein ambitionierter Läufer überholt, der für den Niesenlauf trainiert. Der Wanderer lässt ihn gerne passieren. Während sich der Läufer etwas später oben in der Bergstation in der öffentlichen Dusche erfrischt, tut dies der Wanderer bei einem kühlen Getränk im Berghaus. Der Berg ist geschafft, und auf der halbstündigen Talfahrt kann der Wanderer von der Bahn aus gemütlich die 11 674 Treppenstufen begutachten, von denen sich der Läufer im nächsten Juni herausfordern lassen wird.
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